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DIE KUNST DER FUGE | REZENSION NEUMARKTER Nachrichten

András Schiff und seine Meisterschülerin Schaghajegh Nosrati blättern im Neumarkter Reitstadel die Zeit zurück – bis Takt 239.

Mit Sir András an der Abbruchkante

Schiff interpretiert Bachs »Kunst der Fuge«, das letzte Werk des Barockmeisters, das bis heute als unvollendet gilt.

»Über dieser Fuge … iß der Verfaßer gestorben«, schrieb Carl Phlipp Emanuel neben die netzten Notenzeilen von »Die Kunst der Fuge« seines Vaters Johann Sebastian Bach. Das »Innehalten« des Publikums, das sich die »Neumarkter Konzertfreunde« danach gewünscht hatten, war da fast selbstverständlich. Man hatte die Abbruchkante dieses über sieben Jahre hin entstandenen letzten Werks immer näher rücken gespürt und empfand das Fragmentarische geradezu als Teil des Geheimnisses. Daran ändert auch nichts, dass der Titel dieses Werks »zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths« wohl erst von einem Schüler ergänzt wurde, dass neuere Veröffentlichungen vermuten, dieser geradezu mythische Schluss sei von Bach & Sohn selbst inszeniert worden: Vollendung trotz dieser Unvollendetheit. Der Pianist Sir András Schiff hat sich sein Leben lang für diese Fugen-Geheimnisse (nicht nur denen der Handschrift und des Erstdrucks) befasst, aber erst mit 70 Jahren »Die Kunst der Fuge« zum ersten Mal öffentlich gespielt: 2024, im Jahr darauf bei den Salzburger Festspielen und jetzt im Neumarkter Reitstadel.

András Schiff und seine Meisterschülerin Schaghajegh Nosrati blättern im Neumarkter Reitstadel die Zeit zurück – bis Takt 239.
András Schiff und seine Meisterschülerin Schaghajegh Nosrati blättern im Neumarkter Reitstadel die Zeit zurück – bis Takt 239.

Das spielt sich nicht so einfach, so ein summum opus, so ein Kompendium barocker Fugenkünste, Schiff braucht jetzt eine Brille und einen sachkundigen Umblätterer für die vielen Noten in einem bis zu vierzeiligen Notensystem, aber er bleibt bei aller Geheimnistuerei felsenfest bei seiner Meinung: »Ich bin vielleicht eine romantische Seele, aber ich finde es atemberaubend, wenn diese Musik so in der Luft hängen bleibt« (so heißt es im Programmheft der Salzburger Festspiele).

Und so sind jetzt die Abende mit der Summe von Johann Sebastian Bachs Leben und Werk auch für den Meisterpianisten media vita eine Lebensstation, voll von angespannter Konzentration, bei den wenigen idyllischen Momenten mit nur wenig entspannteren Zügen, wenn es nicht um knifflige technische sondern um Ausdrucksfragen geht. Nur einmal hilft Bach selbst weiter, wenn die Fuge VI »à la francais« heißt, sonst wechseln Lateinisch, Italienisch, die Anweisungen zu auf- und absteigender Dynamik, zu auf- und absteigenden Gefühlen – und das Ganze dann noch in umgekehrter Reihenfolge.

Mit dem fest ans Herz gepressten Notenheft war Sir András aufs Podium gekommen. Und wer zwar ihn hören wollte, aber ansonsten mit »Der Kunst der Fuge« eher fremdelt, erwartete vielleicht einen workflow in meist mittlerer Gefühlslage und ohne die große Ausbrüche einer Wanderer-Fantasie inmitten barocker Gipfel. Aber András Schiff weiß, wo in jeder Fuge die versteckten Pfade verlaufen, wo sie beginnen und enden mit Punkt und Komma in diesem unmodernen Stück in einer Zeit, wo Orthografie verpönt ist.

Aber der Pianist ein Meister des ausdrucksstarken Satzbaus ist. Auch die Aufführungsgeschichte hat sich immer wieder mit Fragen die Besetzung mit Kammerorchester, Triobesetzung, in Ballettchoreografien den Fugen zu nähern versucht – reichhaltiger können die Entdeckungen nicht sein, auch wenn schließlich doch die Festlegungen mehr in Richtung Tasteninstrumente gehen, wie sich der Cembalist Leonhardt denn doch festgelegt hatte.

In diesen Jahren bis 1750 schlagen J. S. Bach und jetzt András Schiff das Buch der barocken Ordnungen noch einmal auf. Aber man hört erstaunt auch Rokoko-Knospen sprießen, dass Türen aufgestoßen werden. Vielleicht weiß der junge Mann, der so erstaunlich kundig umblättert (auch hier vor und zurück), wohin es gehen könnte.

Und vielleicht wollte Bach auch selbst fragen, wohin der Blick auf dieser Gipfelschau noch gehen könnte. Sir András‘ Programm für die Salzburger Festspiele 2026 – ist das ein Fingerzeig, wenn es »Bach und Mozart« heißt ?

Oder ist es die »Spiegelfuge« für zwei Klaviere, mit denen Schiff und seine Meisterschülerin Schaghajegh Nosrati vor dem Abbruch bei Takt 239 von Fuge XIV noch einmal die Zeit bedeutungsvoll zurückblättern. Denn da hatten sich alle Wolken verzogen – auch das wäre ein mitreißendes Vermächtnis gewesen. Aber dann kamen doch dieser immer dünner werdende Lebensfaden und die letzten Noten wie ein Epitaph.

Dieser Artikel von Uwe Mitsching ist am 15. Dezember in den Neumarkter Nachrichten erschienen.