Weihnachtsoratorium | Lionel Sow
Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester sind langjährige Freunde in Neumarkt, ebenso der fantastische Tenor Julian Prégardien. Seine Premiere feiert Lionel Sow, der zu den bekanntesten Chordirigenten Frankreichs zählt.
Lionel Sow in Neumarkt
Ein Interview.Lionel Sow, wurde 2011 zum Ritter des französischen Ordens der Künste und Literatur geschlagen. Der ehemalige künstlerische Leiter der Maîtrise Notre-Dame de Paris und Chef des französischen Rundfunkchors übernimmt bei uns die Leitung des Balthasar-Neumann-Chores.
Herr Sow, welche Stationen waren für Ihre Entwicklung als Chordirigent besonders prägend?
Jede Etappe meiner Laufbahn hat mich zu dem Musiker gemacht, der ich heute bin. Noch spannender finde ich, dass diese Reise weitergeht und immer wieder neue musikalische Abenteuer mit sich bringt!
Meine zwölf Jahre an der Kathedrale Notre-Dame in Paris boten mir eine fantastische Gelegenheit, ein breites Repertoire zu entdecken. Die Kathedrale war auch ein Ort des Nachdenkens über die Beziehung zwischen Musik und Spiritualität sowie zwischen Kunst und Ritual. Diese Dimension beeinflusst meine musikalische Arbeit bis heute.
Die nächste entscheidende Phase war meine Zeit an der Philharmonie de Paris: Dort verbrachte ich zehn Jahre und bereitete gemeinsam mit einigen der inspirierendsten Dirigenten unserer Zeit große chorsinfonische Werke vor – beispielsweise mit Thomas Hengelbrock, den ich damals zum ersten Mal traf.
Parallel dazu habe ich sechs Jahre lang Chordirigieren unterrichtet. Nach zwei Jahrzehnten eigener Praxis wollte ich mein gesammeltes Wissen weitergeben. Gleichzeitig habe ich durch den ständigen Austausch mit meinen Studierenden ebenso viel – wenn nicht mehr – dazugelernt. Sie haben mich dazu gebracht, Klanggestaltung im Ensemble neu zu denken, den Körper als Medium der Musik zu begreifen und die Rolle der Chorleitung grundlegend zu hinterfragen.
In jüngerer Zeit hat mich die Leitung zweier fester Ensembles – bei Radio France in Paris und am Nationalen Forum für Musik in Breslau – noch stärker mit unterschiedlichsten Repertoires in Berührung gebracht und meine Führungskompetenzen weiter geschärft.
Wir Dirigenten haben das Glück, in einem so facettenreichen Beruf zu arbeiten!
Wo und mit welchem Werk haben Sie den Balthasar-Neumann-Chor zum ersten Mal gehört?
Vor etwa zwanzig Jahren besuchte ich die Premiere von Glucks »Orpheus und Eurydike« an der Pariser Oper. Es war ein überwältigendes Erlebnis, doch was mich am meisten beeindruckte, war der Chor. Ich hatte noch nie zuvor in einer Opernproduktion ein so hohes Maß an Klangverschmelzung, Flexibilität und Musikalität gehört. Ich erinnere mich noch genau daran, dass diese Aufführung meine Erwartungen an Chorgesang auf ein völlig neues Niveau gehoben hat.
Was zeichnet für Sie die Qualität und den Geist des BNC aus?
Jedes Mitglied bringt eine einzigartige Mischung aus technischem Können und musikalischer Sensibilität mit. Sie alle suchen nach Verbindung – untereinander, mit dem Publikum und mit jüngeren Musikern. Ihr kompromissloses Streben nach Exzellenz zeigt sich in jeder musikalischen Geste. Über die Noten hinaus erforschen sie die Philosophie, Spiritualität und tiefere Bedeutung von Musik und Interpretation. Vor allem aber sind sie untrennbar mit ihrer Kunst verbunden.
Wie der Gründer des BNC, Thomas Hengelbrock, haben auch Sie Violine studiert – gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten?
Vermutlich teilen wir eine Leidenschaft für Alte Musik und eine Neugier auf neue musikalische Wege. Außerdem schätzen wir beide das Streben nach perfekter Intonation. Wir haben viele tiefgehende Gespräche über dieses Thema geführt. Intonation ist nicht nur eine technische Frage – sie hat auch eine ethische Dimension in der Musik. Es geht darum, das lebendigste, klangreichste und verbindendste Instrument zu formen, um die künstlerische Aussage voll zum Ausdruck zu bringen.
Welches Repertoire werden wir in den nächsten fünf Jahren unter Ihrer Leitung mit dem BNC hören?
Bach war und bleibt ein zentrales Element unserer Programmgestaltung. Barocke Meisterwerke werden weiterhin unsere künstlerische Identität prägen. Zugleich wollen wir der deutschen Romantik besondere Aufmerksamkeit widmen. Dieses Ensemble besitzt die seltene Fähigkeit, die Präzision der Alten Musik in die romantische Klangwelt zu übertragen – und diese Stärke möchten wir weiter ausbauen.
Darüber hinaus wollen wir auch andere Bereiche der Chormusik erkunden. In der vergangenen Saison präsentierten wir in Baden-Baden ein wunderbares Programm mit Poulencs Kantate »Figure humaine«. Für viele unserer Sänger war es die erste Begegnung mit diesem Werk – und die gemeinsame Erarbeitung war eine zutiefst bereichernde Erfahrung. Solche neuen Herausforderungen bringen frische Impulse mit sich.
Wie teilen Sie sich die Projekte mit Thomas Hengelbrock auf?
Das ist ein gemeinsamer Prozess. Thomas ist sehr offen und großzügig in seiner Vision für die Zukunft. Er bleibt jedoch stets der Gründer dieses Ensembles. Seine Präsenz ist für die Identität der Gruppe unverzichtbar – sowohl für die Sänger als auch für das Publikum.
Wird es im Chor einen Generationswechsel geben? Wie gehen Sie damit um?
Ein Chor ist ein lebendiger Organismus – Wachstum ist unerlässlich, muss aber behutsam erfolgen. Der Chor hat eine starke, unverwechselbare musikalische Identität. Ich bin auf die aktuellen Mitglieder angewiesen, um diesen Klang, diese Musikkultur und diesen Geist zu bewahren und weiterzuentwickeln. Gleichzeitig müssen wir neue Generationen von Sängern einführen. Dieser Prozess wurde bereits vor vier Jahren mit der Gründung der BNC Academy angestoßen. Mein Hauptziel in der neuen Leitungsrolle ist es, auf dem aufzubauen, was bereits ein fantastisches Ensemble ist.

Wie trainieren Sie das Hören? Wie entsteht dieser reine, besondere Chorklang?
Jeder gesungene Ton enthält ein reiches Spektrum an Obertönen, die sowohl die Klangfarbe als auch die Vokalfärbung prägen. Diese harmonischen Schichten sind grundlegend für die musikalische Sprache – sie beeinflussen Ausdruck, Textverständlichkeit und klangliche Verschmelzung im Ensemble. Wenn man sie bewusst nutzt, entsteht ein homogener, resonanter Chorklang.
Für mich ist das Wichtigste bei der Arbeit mit Ensembles, den harmonischen Reichtum im Klang zu entwickeln und das Hören zu schulen. Wenn Sänger über den eigenen Klang hinaus das Spektrum der Obertöne wahrnehmen, geschehen Wunder in Bezug auf Intonation und Klangverschmelzung.
Was ist für Sie und den BNC die besondere Herausforderung an Bachs Weihnachtsoratorium?
Ich vermute, dass alle Ensemblemitglieder diese drei Kantaten in- und auswendig kennen! Dennoch werden wir gemeinsam an einer einzigartigen Interpretation arbeiten. Bei der Aufführung von Bachs geistlicher Musik geht es darum, eine ideale Balance zwischen dem Sakralen – also Texten, Chorsätzen, Symbolik und Rhetorik – und dem Weltlichen – wie Tanzrhythmen, Orchestrierung und musikalischer Bildsprache – zu finden. Mehr noch: Es geht um die Verbindung dieser zwei Ebenen. Zum Beispiel können Tanzbewegungen die spirituelle Erfahrung vertiefen.
Mein Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem die Gnade ganz natürlich zwischen Musik, Musikern und Publikum fließt.
Dieses Interview erschien erstmals im Saisonprogramm 2025/26 der Neumarkter Konzertfreunde.

