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»Gelosia!«

Philippe Jaroussky gibt in seinem Beitrag Einblick in die Welt der weltlichen Kantate – und verrät, was das Genre so faszinierend macht.

Gelosia!

Essay von Philippe Jaroussky

Die weltliche Kantate, auch »Cantata da camera« genannt, entstand im 17. Jahrhundert mit Komponisten wie Giacomo Carissimi oder Alessandro Stradella und war im 18. Jahrhundert ein äußerst beliebtes Genre. Meist in »accademie« oder »conversazioni« vor einem kleinen Kreis privilegierter Zuhörer aufgeführt, waren sie Experimentierfeld für neue Ideen und zugleich häufig eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit und Gunst eines zukünftigen Mäzens zu gewinnen. Ich sehe darin auch eine Art Tagebuch der Komponisten, die hier wirklich einmal das schreiben können, was sie tatsächlich empfinden – fernab der zwar lukrativen, aber eher institutionellen Opernaufträge. Es ist ein schier unerschöpfliches Repertoire, denn die Archive sind voller Manuskripte, die nur darauf warten, wiederentdeckt zu werden, wie die beiden Kantaten »La gelosia« von NICOLA PORPORA und baldassare galuppi beweisen, die beide auf diesem Album als Weltpremieren aufgenommen wurden. Die Kantate für Solostimme ist das am häufigsten vertretene Genre und schildert oft die Liebesqualen eines Mannes oder einer Frau, wobei verschiedene Gefühlszustände der Figur dargestellt werden. Es gibt die unterschiedlichsten Formen, am gebräuchlichsten ist jedoch die Abfolge »Rezitativ–Arie–Rezitativ–Arie«, begleitet lediglich von einem Generalbass. Wir befassen uns hier insbesondere mit Kantaten, die von einem Streichquartett begleitet werden und deren Kompositionsstil eher opernhaft ist.

»Dieser Saal passt perfekt zu meiner Stimme« Philippe Jaroussky über den Historischen Reitstadel wo er am 1. Dezember bereits zum 5. Mal zu Gast sein wird.
»Dieser Saal passt perfekt zu meiner Stimme« Philippe Jaroussky über den Historischen Reitstadel wo er am 1. Dezember bereits zum 5. Mal zu Gast sein wird.

Wir beginnen mit dem unangefochtenen Meister dieses Genres, Alessandro Scarlatti, und einer Kantate aus dem Jahr 1716, die ich von Anfang an aufnehmen wollte, weil sie voller harmonischer Kühnheit ist und einen bezaubernden melodischen Charme besitzt. Die Kantate beginnt mit einer sehr düsteren Einleitung in c-Moll im typischen Stil einer »Sonata da chiesa«. Mit der ersten Phrase »ombre tacite e sole« beginnt die Stimme solo, als wolle sie die Einsamkeit der Figur in der Nacht besonders betonen. Der Text dieses Rezitativs ermöglicht es Scarlatti, seiner Fantasie und seinem Erfindungsreichtum freien Lauf zu lassen, indem er insbesondere das Rauschen des Wassers auf den Steinen, das Brüllen der Tiere und die Bewegungen der Schlangen mit beeindruckender Effizienz und Modernität imitiert. Es folgt eine erste Arie in Es-Dur, deren zahlreiche Pausen die Verwirrung des verzweifelten Liebhabers widerspiegeln, der nur noch ans Sterben denkt. Erst im darauffolgenden Rezitativ erfahren wir den Grund für all seine Qualen: die Untreue von Filli. Die Natur bleibt weiterhin gegenwärtig, denn es sind die Bäume und Stämme, die der Schönen erzählen werden, dass ihr ehemaliger Geliebter mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben ist. Die Modulation in Dur, die genau auf die Worte »poche stille« fällt, wirkt besonders eindringlich. Die abschließende »Siciliano-Arie«, ebenfalls mit häufigen Pausen und den Wiederholungen der Worte »perché« und »crudel«, deutet sowohl auf den Geist des verstorbenen Liebhabers hin, der Filli für immer heimsuchen wird, als auch auf ihre eigenen Gewissensbisse.

Als Interpret ist es für mich eine wahre Freude, diese Kantaten dem Publikum darzubieten, denn sie sind in sich geschlossene Werke.
Philippe Jaroussky

Die zweite Kantate des Albums »Cessate, omai cessate«, komponiert um 1735, ist wahrscheinlich die bekannteste von Antonio Vivaldi. Nachdem ich diesem Komponisten drei komplette Alben gewidmet hatte, darunter die äußerst virtuosen Kantaten für Viola und Generalbass zu Beginn meiner Karriere, war es mir wichtig, meine Aufnahmen mit diesem absoluten Meisterwerk der italienischen Kantate zu vervollständigen. Noch bevor der Gesang einsetzt, schildert Vivaldi bereits alle Qualen des betrogenen Liebhabers – mit dem zögerlichen Beginn der »Ouverture à la française«, gefolgt von langen Noten, die in einem Ausbruch von Wut enden, den das erste »cessate!« buchstäblich unterbricht. Hier haben wir ein perfektes Beispiel für die Kunst des begleiteten Rezitativs, bei dem das Streichquartett als Erweiterung der durch die Stimme beschriebenen Gefühle eingesetzt wird. Die erste Arie ist typisch »vivaldisch« aufgebaut auf einem hypnotischen Ostinato der Violinen, und die sehr originelle Spielanweisung »tutti pizzicati, uno con l’arco«, die bereits in der Arie »Sento in seno ch’inpioggia di lacrime« aus der Oper Giustino verwendet wurde, vermittelt uns das unglaubliche Gefühl, uns in der Lagune von Venedig zu befinden, und beschreibt auf wunderbare Weise die Tränen des Verzweifelten, der wunderschöne Melismen entfaltet, immer wieder unterbrochen von Zwischenrufen: »Ah, sempre più spietata«.

Nach einem düsteren und sehr dramatischen Rezitativ entfesseln sich die Streicher im abschließenden Allegro in einem Wirbel aus sich wiederholenden Noten, und die Vokalstimme wird syllabischer, wobei der Teil B unweigerlich an die große Wahnsinnsszene aus dem berühmten »Orlando furioso« desselben Komponisten erinnert.

Philippe Jaroussky & Ensemble Artaserse

Kommen wir nun zu unseren zwei bisher unveröffentlichten Kantaten, die beide auf demselben Text von Pietro Metastasio basieren – dem unbestrittenen Meister des »Dramma per musica«, mit dem Titel »La Gelosia«.

In der ersten, 1746 komponierten Kantate fügt Porpora eine kleine instrumentale Ouvertüre hinzu, die den Anspruch der Kantate als eigenständiges Werk ankündigt. Der neapolitanische Meister entfaltet sein Können vor allem in den begleiteten Rezitativen und liefert uns hier ein vollkommenes Beispiel. Die Kantate beginnt mit den Gewissensbissen des Liebhabers, der es gewagt hat zu denken, dass Nice untreu sei. Der Protagonist ergeht sich in Entschuldigungen und schwört, nicht mehr eifersüchtig zu sein. Doch Mitte des zweiten Rezitativs gewinnt seine wahre Natur für einen kurzen Moment wieder die Oberhand, als er sich daran erinnert, wie Nice errötete, als sie Tirsi sah. Porporas Kompositionsweise zeichnet sich durch einen ausgeprägt galanten Stil aus, der sich in den typischen Girlanden von Koloraturen in Triolen-Form sowie in zahlreichen Betonungen und Trillern manifestiert. Die letzte Arie folgt wunderbar dem Text, wobei die Instrumente im ersten Teil das Meer beschreiben und im mittleren Teil den Krieg mit seinen Trompeten symbolisieren.

Die 1782 komponierte Version von Galuppi markiert einen bedeutenden stilistischen Wandel in seinem klassizistischen Stil: Er vermeidet darin große Koloraturen und konzentriert sich auf die Ausdrucksnuancen des Textes. Sie ist wesentlich prägnanter und reich an äußerst eleganten Details. Das Adagio am Ende des zweiten Rezitativs »Pietà mio bene« erinnert an die Begleitung des berühmten »Quand corpus« aus Pergolesis Stabat Mater.

Um das Programm abzurunden, wollte ich unbedingt eine der schönsten Kantaten aus Händels jungen Jahren aufnehmen, »Mi palpita il cor«. Dieses Werk aus den Jahren 1710–1713 trägt unverkennbar die Prägung seiner kürzlich unternommenen Italienreise. Sie wurde mehrfach für verschiedene Stimmen und unterschiedliche Besetzungen überarbeitet, was die besondere Wertschätzung des Komponisten für dieses Werk zeigt. Das erste Rezitativ, mit dem Herzschlag, der durch den Einsatz der Stimme symbolisiert wird, ist unglaublich intensiv. In der ersten Arie entfaltet sich ein erhabener, von großer Sinnlichkeit durchdrungener Dialog zwischen Gesang und Flöte. Nach einem kurzen Rezitativ, in dem das Wort »gelosia« zum einzigen Mal im gesamten Album explizit genannt wird, entwirft der Liebende das Bild einer (ungewissen) Zukunft, in der seine Geliebte dieselben Gefühle empfinden wird wie er.

Als Interpret ist es für mich eine wahre Freude, diese Kantaten dem Publikum darzubieten, denn sie sind in sich geschlossene Werke. Das bietet weit mehr Erfüllung als ein Liederabend mit Opernarien, die aus ihrem dramatischen Zusammenhang gerissen sind. Diese Werke bieten zudem die Möglichkeit zu wahrhaft kammermusikalischer Zusammenarbeit, und ich möchte jedem einzelnen der talentierten Musiker meines Ensembles Artaserse herzlich für das einfühlsame Zusammenspiel während der Aufnahme in der Abtei von Royaumont, die uns so sehr inspiriert hat, danken. Ich hoffe, Sie genießen den Charme und die Finesse dieser Musik genauso sehr, wie wir sie mit Freude gespielt und aufgenommen haben!

Philippe Jaroussky in Neumarkt

Sonderkonzert am 1. Dezember 2025
»Überragender Countertenor« jubelte die Presse über Philippe Jaroussky bei seinem letzten Konzert  im Historischen Reitstadel am 2. April 2023
»Überragender Countertenor« jubelte die Presse über Philippe Jaroussky bei seinem letzten Konzert im Historischen Reitstadel am 2. April 2023

Arien und Instrumentalmusik von den italienischen Barockmeistern Antonio Vivaldi, Nicola Porpora, Baldassare Galuppi, Francesco Durante sowie Domenico und Alessandro Scarlatti.

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